Samstag, 26. Februar 2022
Samstag, -e
Es beginnt der zweite Samstag in dem neuen System. Samstag ist jetzt Tagespflege-Tag. Dafür werden Dienstag und Mittwoch gestrichen und es bleibt nur Donnerstag unter der Woche. Die Idee ist so alt wie die Situation selbst und wurde mir gleich zu Beginn von den Professionellen ans Herz gelegt, zu meinem Schutz, aber dem Pflegling war es lange unvorstellbar, am Wochenende weg zu sollen. Als man noch der Vorstellung anhing, das alte Leben ginge weiter, nur eben mit Krankheit, inklusive der Gewohnheit des gemeinsamen Samstags. Die Rede ist hier von einer 25-jährigen Gewohnheit, immerhin. Die verabredete Die-Do Regelung erstarrte dann und wurde erst mal nicht mehr hinterfragt. Nun, viel zerschmissenes Geschirr später, denkt man anders. Im Rahmen einer Neuordnung des Tagespflege-Regimes, nachdem durch die Gebührenerhöhung bereits zweimal Zuzahlungen von über 300 Euro fällig wurden und drei Tage zu teuer werden, versuchen wir jetzt die zwei-Tage Lösung. Ich habe jetzt immer Samstags zwischen 9 und 14.30 Uhr Freizeit. Ich stehe nur kurz auf für Tabletten, Anziehen und Rausbringen. Frühstück fällt weg, das gibt es in der Einrichtung, und so kann ich nach der Abfahrt direkt wieder ins Bett. Ich machte mir heute also Kaffee, zwei Leberwurstbrote, nahm noch ein Stück Nusskuchen aus dem Care-Paket der Schwiegermutter dazu und erinnerte mich in der Küche, dass ich noch ein Gedicht von Paul Fleming nachlesen wollte, das mir gestern in einem Gespräch über das Leben in unseren Zeiten mit einem Kollegen eingefallen war. Ich griff mir unten noch den Echtermeyer aus dem Regal und bin nun wieder in meinem Bett. Eine Weile habe ich mich noch auf meine Ohren konzentriert, da höre ich rechts hohes und links tiefes Rauschen, aber da möchte ich erst mal nicht weiter drüber nachgrübeln. Ich lese den Newsticker zur Ukraine im Guardian und die Analysen zum ukrainisch-russischen Verhältnis im New Yorker, die haben einfach die besten Osteuropa-Experten aus Harvard für Interviews an der Hand, für genau die Detailtiefe und Deutungskraft, die ich brauche, um im Verständnis jeglicher Nachrichten zufriedenstellend weiterzukommen. Ich muss mich immer sehr anstrengen, irgendetwas draussen in der Welt zu verstehen, und wundere mich nicht, dass die Ohren rauschen und der Kopf brummt.
Gerade rief der Pflegling an, die Tagespflege mache einen Ausflug zum Einkaufszentrum und er habe mir eine Süddeutsche besorgt. Danach klingelte der Postbote mit den Kisten von Crowdfarming, Avocados und Zitronen aus Spanien. Mein Lieber denkt an mich, und ich habe genug Geld für Südfrüchte. Für einen Moment ist alles gut. Mir kommen die Tränen.

Paul Fleming

An sich

Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren;
nimm dein Verhängnis an. Laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein, und eh man dir's gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man noch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
dies alles ist in dir. Laß deinen eitlen Wahn,

und eh du fürder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.

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Montag, 14. Februar 2022
Harmonie, -n
Heute war ein schöner Sonntag, fast wie früher. Es begann schon damit, dass ich noch im Bett die Morgensonne registrierte und lange den Spatzen im Baum vorm Fenster zuhörte, ohne schlechtes Gewissen. Ich erkannte das Gefühl wieder und freute mich. Mir war wohl. Als ich runter ging, war es schon nach zehn und die Schwester schon lange durch.
Der Pflegling wartete immerhin schon seit drei Stunden, hat aber jetzt immer eine Schale mit Nüssen und Rosinen auf dem Tisch, aus der er sich bedienen und Wartezeiten überbrücken kann, und sich auch sonst zwischendurch ein paar Kalorien zusätzlich anfuttern soll.
Medikamente waren zu spät; da besprachen wir, für die Zukunft Freitagabend und Samstagabend eine Sicherheitsreserve für den nächsten Morgen zu deponieren. Einfacher wäre, wenn die Schwester die Tabletten aus dem Kühlschrank holt, wenn die Pflegeperson einmal ausschlafen muss, aber solche Sperenzchen zahlt die Kasse nicht.
Wir frühstückten und sprachen über dies und das, bis gegen 12 die Jugend erschien. Später waren wir alle noch erstaunlich tüchtig, vom Frühlingswetter animiert, und fegten zwei Gehwege (eigener und Nachbars vom Schülerinnenjob), zerlegten alle alten Kartons und sortierten Leergut. Teils unter schnaubendem Protest, aber immerhin. Ein Schwätzchen am Zaun. Der Nachbar will uns helfen, ein kaputtes Stück Zaun zu reparieren, da können wir von ihm lernen, wie es geht. Wir werden uns noch viel Handwerkliches aneignen müssen in den nächsten Jahren.
Der Pflegling brach währenddessen mit dem E-Rolli zu einem Ausflug in die Natur auf, von dem er so lange nicht zurückkehrte, dass man begann, sich zu sorgen und zu telefonieren. War aber alles gut, nur bei der Rückkehr kam es zur Krise, weil die Räder des E-Rollis voller Waldboden waren, was erst in der Küche bemerkt wurde, in der bereits konzentrierte Essensvorbereitungen im Gange waren. Kurzer Verlust der Fassung, dann schnell zurück gescheucht über die Rampe wieder raus in den Hof und dort zu zweit mit J eine Viertelstunde das Profil der Räder ausgekratzt und abgebürstet, mit Essstäbchen und Messern, und parallel dazu über die Schulter in die Küche F Anweisungen für die Sommerrollen zugerufen. Alles flutschte, wir waren ein Team, ich war glücklich und ruhig. Sollten wir es schaffen? Das gemeinsame Essen dann war in Harmonie und ein Genuss, dass mir das Herz aufging. Später zogen sich alle zurück, lesen, zocken, stricken. Auch der Abenddienst war friedlich, ich war heute eingeteilt, und obwohl ich noch lange in der Küche räumte, hatte ich keinen Groll.

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Samstag, 22. Januar 2022
Prüfung, -en
Heute 6.30 aufgemusst wegen der Prüfung um 8.00 Uhr. Nach drei Stunden Schlaf war ich noch bisschen belämmert, auch von dem späten Pregabalin, aber das verzog sich nach einem Käffchen und dreimal tief Luftholen im Hof. Der Hof ist schön. My backyard, my life.
Nach der Kompletteskalation gestern Abend mit Morddrohungen gegen ALLE und einem erneuten Niveausprung in meiner Fäkalsprache war ich heiser und fand auch sehr schlecht wieder in die Ruhe. Wie wahrscheinlich auch die halbe Strasse wach lag.
Inzwischen kommt ?Du dreckiges Stück Scheisse? ganz flüssig, bei offenem Fenster, womit prinzipiell immer ALLE gemeint sind, mit Ausnahme vielleicht des Katers, insbesondere aber der Pflegefall. Im Symptomkatalog, mit dem die Pflegeperson ihr Erschöpfungslevel evaluieren soll, mache ich mental einen weiteren Haken, Kapitel Aggression und Gewalt/Besonders unflätige Sprache, soviel Ordnung muss sein. Jedenfalls nicht ab in die Heia und für den Samstagsjob Kraft angeschlafen, sondern noch Bad geputzt und im Schlafzimmer eine Lampe. Wut wandeln, nach Mitternacht
Die Prüfung heute ging ratzfatz durch, das Geld war flugs verdient. Ich war auch gar nicht müde. Ich war Profi, hatte Spass und niemand musste beschimpft werden. 13.00 waren wir fertig und die Notenabstimmung geht dann per email. Der neue Bildschirm fürs homeoffice, auf dem ich sechs PDFs nebeneinander platzieren kann, hat die Feuertaufe bestanden. Nicht unaufdringlich für so ein kleines Schlafzimmer, aber egal.
Wieder unten dann das gemeinsame Comunique vor den Kindern (von dem Pflegefall und mir), dass jetzt ein Dienstplan kommt. Jede*r auf zwei Beinen habe ab heute an einem Abend Spätdienst und sei alleine fürs Ins-Bett-Bringen vollverantwortlich. Dafür habe jeder*r dann zwei Abende frei. Puh. Hörte ich ein Aufatmen? Weiters: Pflegegeld. Falls überwiesen, solle es gerecht durch drei geteilt werden. So. Allseitige Zustimmung. Ich wurde von J, die direkt alle Termine für das ganze Jahr festlegte, für morgen eingeteilt. Heute übernimmt sie, ich habe also unerwartet - frei für ?Middlemarch?.
Kein Feilschen mehr, keine blanken Nerven. Sollte das die Lösung sein? Lieber Gott, bitte mach, dass es so einfach ist.

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Samstag, 8. August 2015
Neulich Rollenspiel. - Also, Du bist jetzt im Spiel die Mama, und ich bin jetzt das Kind, ja? - Sagt das Kind zur Mama.
Wie ging das bloß noch?

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Mittwoch, 3. September 2014
Ich habe für uns eine Putzfrau organisiert.
Das ist die korrekte offizielle Sprachregelung hier. Ehrlicherweise müsste es natürlich heißen: "Ich habe für mich eine Putzfrau organisiert", weil es den anderen ja schnurzegal ist, wer für sie putzt. Mit solchen Formulierungen kann man sich ja auch im Nullkommanix böse verraten. Einmal nicht aufgepasst und schon weiß die ganze Welt, dass die Kriminelle daheim die Klofrau ist.
Also jetzt haben wir (ich) natürlich erst mal den totalen Stress, weil die Hippiebude in einen Zustand kommen muss, dass jemand von draussen herein kann. Und die Vorstellung, dass dann wer Fremdes in den Ecken herumkriecht (so wie ich das mir vorstelle, wie ich das als Putzfrau so machen würde, also Schubladen aufziehen und hinter Vorhänge lunsen und so) ist schon sehr unangenehm. Lebenserfahrene Menschen mit Putzhilfen sagen, dass man mit der Zeit da auch einfach abhärtet. Also betrachte ich das alles mal als Desensibilisierungstraining mit festen Übe-Rhythmus. Außerdem wär die Alternative ja Kloputzen. Also.

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Dienstag, 2. September 2014
Jetzt habe ich ja vorerst den Glauben an das Gute im Arbeitgeber verloren. Da habe ich nun doch extra diesen technischen Beruf erlernt. Klarerweise nicht aus Jux und Dollerei, sondern weil ich einmal im Leben eine vernünftige Stelle möchte. Vernünftig heißt, wenn man zwei gefräßige Junge hat, oberhalb des durchschnittlichen Lebensstandards eines KSK-Mitglieds. Jetzt dachte ich mir, das geht vielleicht einfach so:
Ich suche mir eine Firma, die Stellen ausgeschrieben hat. Eine davon z.B. seit einem Jahr. Dort mache ich das Praktikum, das ich für die Zertifizierung brauche, und wenn ich dort nicht die Bude in die Luft jage, stellen sie mich ein. Klang mir logisch.
Aber nein! Kriminelle naiv! Menschen mit Lebenserfahrung ahnen es: Die haben sich überlegt, dass sie ja erst mal mit mir etwas sparen können. Die Stellenanzeige ist gelöscht und die einschlägigen Aufgaben sind plötzlich auf mich und einen weiteren unbezahlten Praktikanten verteilt. Arrgh!

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Sonntag, 24. August 2014
Irgendwann im letzten Jahr wurde von mir Folgendes beschlossen: Ich lerne einen neuen Beruf! Seit immer war ich ja auf Wissenschaft oder Kultur oder sonstige geistige Bereiche aus. Aus Gewohnheit und intellektueller Starre, auch aus Unwissen. Mein Weltbild war ja einfach: Die Bösen sitzen in der Wirtschaft. Zu den Bösen will ich nicht. Deshalb gibt es die Wirtschaft nicht. Dann wurde ich vom Leben belehrt: Die wahre Ausbeutung sind die Projektstellen in der öffentlichen Kultur. Wo 50-jährige Promovierte 800-seitige Kataloge zum 1.Weltkriegs-Jubiläum erstellen, als HiWis. Quasi im Ehrenamt. Und noch denken, was haben sie doch für ein Glück gehabt. So möchte man dann doch nicht enden. Die Wirtschaft erschien mir plötzlich doch ganz attraktiv.
Jetzt jedenfalls habe ich diesen neuen Beruf mit "Technik" im Namen, der allein schon dadurch verhindert, dass ich mich jemals wieder unter Kulturmenschen bewegen kann, ohne mich der Verachtung auszusetzen; das war volle Absicht, um den Rückweg auch ganz sicher abzuschneiden, falls ich doch eines Tages schwächeln sollte. Jetz schau mer mal weiter.

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Mittwoch, 28. Mai 2014
Heute droht Ballett. Mir wird schon wieder ganz komisch. Die Ballerina ahnt scheinbar etwas und bietet von sich aus an, allein rein zu gehen. Und wieder heim zu kommen. Halleluja, mir bleiben die Mütter erspart.

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Mittwoch, 21. Mai 2014
Kriminelle lernt ja jetzt Projektmanagement. Sie lernt dabei fürs Leben: Ihre Alltagsplanung besteht durchgehend aus kritischen Pfaden.

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Sonntag, 11. Mai 2014
Ballett macht unsichtbar. Ich erkläre kurz, wie das geht. Seit Januar besucht die Tochter eine Ballettschule. Sie möchte das gern und sie soll das aus Rehagründen. Die Ballettstunden seien sehr schön, höre ich. Alles könnte also gut sein. Aber da sind noch die Ballettmütter.
Die sind nämlich sehr streng mit uns. Wir machen ja auch viele Fehler. Wir waren im falschen Kindergarten (Multikulti, nicht Montessori). Wir sind dann auch noch mitten im Jahr reingeplatzt in die Gruppe, weil es uns nicht rechtzeitig eingefallen war. Wir kommen auch immer direkt vom Hort dorthin gehetzt, manchmal verspätet. Das geht natürlich nicht. Da muss man Grenzen ziehen. Daher redet niemand mit uns. Man muss uns auch nicht grüßen. Wir existieren praktisch gar nicht. Ich habe das erst nicht verstanden und mich noch ein paar Mal unverschämt dazugesellt, bis sich einmal eine Mutter von einer Gruppe von direkt vor ihr stehenden, ihr zugewandten fünf Personen mit "Tschüss, ihr beiden" verabschiedete. Darunter ich und meine zwei Kinder. Sie konnte uns drei einfach nicht sehen. Ich sag's ja.

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